Herr Zimmermann, die Bilder des Corona-Virus sind in den Medien omnipräsent. Wie nehmen Sie als Experte für Kunstgeschichte und visuelle Kultur das Virus wahr?
Michael F. Zimmermann: Ein Wissenschaftsbild, ein Bild unter dem Mikroskop, muss immer gefärbt, stilisiert, auch geschönt werden, damit man überhaupt etwas sieht. Das ist seit dem Bazillus Koch so, dem Tuberkulose-Bazillus, das Robert Koch 1882 entdeckt hat. Das Corona-Virus sehen wir gelegentlich zwar auch in matten Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Elektronenmikroskop. Zumeist aber wird es als rundes „Krönchen“ visualisiert – eher wie ein Medi-Ball beim Yoga. Eine schöne Form, die immer wieder und überall als ihr eigenes Logo erscheint. Das gilt übrigens auch für den Namen „Corona“. Andere Namen sind weit weniger schön. Zum Beispiel Sars: Schweres akutes respiratorisches Syndrom. Wir leben also mit einer schrecklichen Bedrohung, die wir uns zugleich in schönen Symbolen vergegenwärtigen.
Ein Begräbnis in Ornans
Das Gemälde "Ein Begräbnis in Ornans" von Gustave Courbet aus dem Jahr 1849/50 zeigt eine Beerdigung auf dem neuen Friedhof vor der Stadt. Weil Friedhöfe direkt an Kirchen als Quelle von Infektionen galten, wurden sie vielerorts verlagert. Der Kunsthistoriker Michael F. Zimmermann von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sieht darin auch ein Zeichen für die auch heute übliche "Verdrängung des Todes".
Das Corona-Virus ist zwar eine neue Krankheit, wir werden dadurch aber auch an frühere Ereignisse erinnert. Inwiefern sind diese für die Wahrnehmung des Virus relevant?
Zimmermann: Wie wir wissen, stand das Sars-Virus am Anfang. In den Jahren 2002 und 2003 gab es die erste große Sars-Epidemie, die von einer südchinesischen Provinz ausging. 2009 verbreitete sich die Schweinegrippe. Auch damals gab es schon Desinfektionsspender in öffentlichen Toiletten. 2012 folgte Mers. 2013 dann die Vogelgrippe H7N9. Seit Ende 2019 sind wir mit Covid 19 konfrontiert. Diese Geschichte hat auch Stereotype hervorgebracht, mit denen wir umgehen müssen. Südchina und der asiatische Raum spielen dabei eine Rolle – eher als unsere Lebensweise, durch die wir selbst zur Entstehung und Verbreitung immer neuer Krankheitserreger beitragen. Das „schöne Icon“ aber, das begegnet uns erst seit der neuen Welle.
Die Berichte aus der italienischen Stadt Bergamo haben uns auch Bilder von Krankheit und Tod gezeigt. Wie ist man in der Vergangenheit mit solchen Bildern umgegangen?
Zimmermann: Als kritische Journalisten Bilder von Leichensäcken aus China gepostet haben, wurden sie dafür weggesperrt. Das hat hierzulande viele zu Recht aufgeregt. Aber haben wir solche Bilder auch bei uns gesehen? Gezeigt wird mal ein Krankenwagen oder eine zur Krankenstation umfunktionierte Halle, sonst aber wenig. Das passt in eine Geschichte der Verdrängung des Todes. In mittelalterlichen Kirchen sieht man noch viele Grabmale. Seit der Französischen Revolution und dem Übergang zum 19. Jahrhundert verschwanden diese jedoch. Begräbnisse in Kirchen, aber auch Friedhöfe direkt an den Kirchen wurden seither als Quelle von Infektionen betrachtet. Die großen Friedhöfe wurden daher an die Stadtränder verlegt. Darauf hat schon der französische Philosoph Michel Foucault verwiesen und solche anderen Orte außerhalb der Gesellschaft als „Heterotopien“ bezeichnet. Gustave Courbet hat in einem großen Gemälde mit dem Titel „Ein Begräbnis in Ornans“ aus dem Jahr 1849/50 das erste Begräbnis auf einem solchen neuen Friedhof vor der Stadt dargestellt.
Gilt ein solcher Umgang mit dem Tod auch noch für die Gegenwart?
Zimmermann: Die Darstellung des Todes kehrt auch wieder – wie Thomas Macho und Kristin Marek 2007 dargelegt haben. Man erfindet alternative Begräbnisstätten und -rituale. Die neuen Formen der Vergegenwärtigung erscheinen aber in einer verfeinerten Form. Der Präsenz des Todes folgt die Sublimierung auf den Fuß. Viele junge Menschen habe noch niemals eine tote Person gesehen. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, die aktuelle Omnipräsenz des „schönen Virus“ als eine fast ultimative Form der Verschönerung des Schrecklichen zu betrachten.
Liegt es auch in der Verantwortung der Medien, mit diesen Bildern angemessen umzugehen?
Zimmermann: Erinnerungen und Erinnerungskulturen, so ein erstes Stichwort, sind etwas gesellschaftlich Geteiltes. Sie wachsen uns nicht zu, sondern wir müssen uns darum bemühen. Das entscheidende, zweite Stichwort lautet: Psycho-Ökonomie. Wir sind verantwortlich, nicht nur dafür, wie wir selbst emotional mit der aktuellen Herausforderung umgehen. Sondern auch für die gemeinschaftlichen Räume, für geteilte Erinnerungen und für eine emotionale Kultur jenseits der allgegenwärtigen Erregungsbewirt-schaftung. Dieser geteilten Verantwortung sollten wir gerecht werden. Mit dem, was geschrieben und gezeigt wird, müssen wir alle leben können.
Sie sprechen auch in ihren Seminaren über das Thema Erinnerungskultur. Sind Lehrveranstaltungen mit Studierenden derzeit denn überhaupt möglich?
Zimmermann: Ja, das Thema Erinnerungskulturen behandeln wir aktuell in einem Seminar. Dabei geht es um Prag als Ort immer wieder neu gewonnener Erinnerung. Das Seminar findet jetzt natürlich nicht an der Universität, sondern digital statt – über eine Videokonferenz. Es ist durchaus ein anderes Erleben, wenn man sich nicht mit allen Studierenden in einem Raum befindet. Stattdessen fügen sich am Bildschirm eher zahlreiche Einzelbegegnungen zu einer distanzierteren und zugleich doch intimeren Gruppe zusammen. Auch eine Exkursion nach Prag, die schon lange geplant war, findet nun online statt.
Wie kann man sich eine solche virtuelle Exkursion denn vorstellen?
Zimmermann: Regulär hätten wir uns bei der Exkursion an einem Stadtplan orientiert, um nachzuvollziehen, wie Prag ursprünglich aus vier einzelnen Städten zusammengewachsen ist. Da die Exkursion nun virtuell stattfindet, bilden die Geschichten der Stadt den Ausgangspunkt. Die städtische Wirklichkeit wird aus der Perspektive der Erinnerungskultur erkundet. Öffentliche Plätze werden hierdurch etwa als Orte der politischen Aushandlung erfahrbar, wenn es zum Beispiel um die Aufstellung von Denkmälern oder um die Umbenennungen von Straßen und Plätzen geht. Vielleicht stärker als vor Ort wird deutlich: Nicht nur der Mensch macht die Geschichte und Geschichten – die Geschichte und die Erzählungen machen immer auch die Menschen.
Das Gespräch führte Thomas Metten.