Herr van Loon, viele Menschen sind verunsichert, da unklar ist, wie die Corona-Pandemie weiter verlaufen wird. Wie können wir mit diesen Unsicherheiten umgehen?
Zunächst einmal ist es vollkommen normal, dass in einer Pandemie, die durch ein neues Virus ausgelöst wird, Unsicherheiten entstehen. Die Bundesregierung hat aber sehr früh den Schutz der Schwächsten ins Zentrum gestellt. Von dieser Entscheidung konnte vieles abgeleitet werden. Zwar ist es richtig, auch politische Entscheidungen zu hinterfragen – doch ist das Ziel, die Schwächsten zu schützen, sehr gut nachvollziehbar. Daran lässt sich nicht viel kritisieren. In Großbritannien oder in den USA waren die politischen Vertreter weitaus weniger entschieden. Das hatte fatale Konsequenzen, wie wir an den Sterberaten erkennen können.
Sie befinden sich aktuell in den Niederlanden. Wie ist dort die Situation?
Auch in den Niederlanden hat man lange gezögert. Unklar war, wie weit man bei den Einschränkungen gehen sollte. Die Prioritäten wurden nicht klar kommuniziert. Da war es schon zu spät. Die Infektionsrate und die Sterberate sind deutlich höher als in Deutschland. Das ist keine Bösartigkeit, die entscheidenden Personen haben nur nicht schnell genug gehandelt. Zögern hat in einer Pandemie fatale Folgen.
Die Unsicherheiten führen dazu, dass vermehrt Kritik an der Wissenschaft geäußert wird. Das Vertrauen in die Forschung scheint zu schwinden.
Wissenschaft beschäftigt sich mit Unsicherheiten, das ist ein unverzichtbarer Teil von ihr. In der Öffentlichkeit entsteht hingegen der Eindruck, dass Forscherinnen und Forscher auf alles eine Antwort haben müssen. Das ist nicht richtig. Unbestimmtheiten, wie wir sie in der Corona-Krise erleben, sollten nicht verheimlicht werden. Wir haben es stets nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Daraus resultieren Risiken, die öffentlich angemessen vermittelt werden müssen. Zugleich müssen wir der Wissenschaft zutrauen, dass sie mit einer solchen Krise umgehen kann. Wenn das Vertrauen schwindet, wächst der Raum für Spekulationen.
Hat die Wissenschaft also eher ein Kommunikationsproblem?
Auch Forschende dürfen in der Öffentlichkeit unterschiedliche Meinungen vertreten. Ein aktuelles Beispiel: Einige Virologen gehen davon aus, dass Kinder das Coronavirus weniger häufig übertragen, da sie weniger Symptome aufweisen. Andere nehmen an, dass sie genauso infektiös sind. Zum jetzigen Zeitpunkt können beide Recht haben. Doch wie geht man damit um, wenn es keine eindeutige Antwort gibt?
Müssen wir lernen, solche Unsicherheiten auszuhalten?
Ja, wir können das nur hinnehmen. Es ist einfach so, dass es viele negative Corona-Tests gibt, obwohl die Personen erkrankt sind. Offensichtlich sind die Tests falsch. Es gibt aber auch positive Tests, obwohl die Personen keinerlei Symptome aufweisen. Wir haben einfach noch zu wenig Erfahrung mit Covid-19. Solange wir keine Sicherheit haben, müssen wir sehr vorsichtig sein.
Die Medienlandschaft hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten sehr verändert. Hat das Auswirkungen darauf, wie wir die Pandemie wahrnehmen?
Ja, heute gibt es durch die sozialen Medien wesentlich mehr Informationsquellen als zuvor, die auch wechselseitig aufeinander verweisen. Dadurch können abwegige oder falsche Aussagen den Eindruck erwecken, dass sie wahr sind. Letztlich handelt es sich aber nur um Querverweise, die nur in bestimmten, sehr eng begrenzten Medienbereichen geteilt werden. Wer Nachrichten ausschließlich in den sozialen Medien rezipiert, kann den Wahrheitsgehalt von Aussagen daher kaum kontrollieren. Das ist die Basis, auf der – wie wir aktuell erleben – Verschwörungstheorien entstehen können.
Bieten journalistische Angebote wie Tageszeitungen eine gute Alternative?
Leider sind die Redaktionen von Tageszeitungen heute finanziell stärker eingeschränkt. Redakteure haben weniger Zeit für umfängliche Recherchen. Informationsquellen können weniger genau überprüft werden. Der herrschende Termindruck führt dazu, dass Meldungen gelegentlich unkritisch übernommen werden. Meist sind die Inhalte korrekt, doch können auch Fehler entstehen. Etwa durch manipulierte Daten. Dadurch ist der klassische Journalismus anfälliger geworden.
Wo liegen die Ursachen für die Herausforderungen, die wir aktuell erleben?
Unsere Gesellschaft hat sich stark verändert. Die Handlungsspielräume sind heute geringer als zuvor. In der Wirtschaft etwa wird kurzfristiger produziert. „Just in time“ – wie die Ökonomen sagen. Daraus resultiert ein Rückgang der Flexibilität. Wenn die Reserven kleiner werden, schwinden die Möglichkeiten, unvorhergesehene Ereignisse abzufangen. Die Schwächen dieser Entwicklungen werden nun sichtbar. Es fehlt an Unabhängigkeit. Es fehlen Interventionsmöglichkeiten. Der Soziologe Ulrich Beck hat daher schon in den 1980er Jahren von einer Risikogesellschaft gesprochen. Widersprüchlich an der Entwicklung ist, dass wir mehr und mehr versuchen, rational und effizient mit Risiken umzugehen. Oftmals führt aber gerade das zur Entstehung neuer Risiken.
Gilt die Diagnose „Risikogesellschaft“ noch heute?
Ulrich Becks Diagnose trifft in Teilen noch zu. Gewisse Entwicklungen wie die globale Finanzpolitik oder die sozialen Medien hat er aber nicht vorhergesehen. Heute leben wir eher in einer „postfaktischen Gesellschaft“. Das bedeutet: Der Unterschied zwischen gefühlten Wahrheiten und tatsächlicher Erkenntnis verschwimmt. Das müssen wir zurückdrehen. Wir brauchen einen kritischen Journalismus, eine vierte Macht im Staat, die nicht vom Markt abhängig ist. Und wir benötigen eine starke und unabhängige Grundlagenforschung. Das sind die besten Waffen gegen Misstrauen und Verschwörungstheorien – und die beste Voraussetzung für einen Umgang mit Krisen wie der Corona-Pandemie.
Wie lässt sich die Situation denn künftig besser gestalten?
Deutschland steht im Vergleich mit anderen Ländern sehr gut da. Trotz der hohen Zahl der Infizierten sind die Sterbezahlen gering. Zwar sind die Krankenhäuser schwer belastet, aber nicht überlastet. Die überwiegende Mehrheit akzeptiert die Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Ich bin sehr froh, dass wir keine Situation wie in den USA erleben, wo Menschen Institutionen stürmen, weil sie zum Friseur wollen. Man sollte daher weniger an der Panik-Schraube drehen und sachlich bleiben. Zudem müssen wir lernen, wie wir in der Nach-Corona-Zeit Wirtschaft und Gesellschaft wiederaufbauen können. Der Staat sollte eine führende Rolle einnehme – zum Beispiel durch eine bedürfnisorientierte Wirtschaftspolitik. Kleinen und mittleren Unternehmen sollte unbedingt geholfen werden. Sie werden beim Wiederaufbau Wichtiges leisten. Auch gesetzliche Änderungen werden notwendig sein, um ungünstige Entwicklungen zu revidieren.
Das Gespräch führte Thomas Metten, Mitarbeiter des Projektes „Mensch in Bewegung“
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